Genveränderungen – Der Preis der Domestikation (Teil 1)
Rund 5.500 Jahre in der Obhut des Menschen haben moderne Pferderassen zu dem gemacht, was sie heute sind. Die Domestikation führte aber auch zu Problemen wie Erbkrankheiten und Inzucht – zu diesem Ergebnis kamen aktuelle Studien, die die DNA von Ur- und Hauspferden verglichen. Jetzt sind vor allem die Züchter in der Verantwortung.
Im vierten Jahrtausend vor Christus begannen unsere Vorfahren im Westen der eurasischen Steppe nach heutigem Wissensstand mit der Zähmung des Pferdes. Seither hat der Mensch die einst scheuen und wilden Steppenbewohner durch gezielte Zuchtauswahl nach seinen Vorstellungen geformt. Das Pferd wurde zum Fleisch- und Milchlieferanten, zum Reit-, Zug- und Lastentier, zum Kameraden in der Schlacht, zum Statussymbol, zum Sport- und Freizeitpartner und prägte den Lauf der Geschichte wie wohl kein anderes Tier. Darüber, welche Spuren die Domestikation im Erbgut unserer heutigen Pferde hinterlassen hat, konnte lange nur spekuliert werden. Die bei anderen domestizierten Tieren und Pflanzen übliche Vorgehensweise, der DNA-Vergleich zwischen den Haustieren und Kulturpflanzen und ihren wilden Verwandten, konnte beim Pferd nicht zum Einsatz kommen. Denn die Przewalskipferde, die einzige bekannte noch existierende Wildpferdeart, sind keine direkten Vorfahren unserer Hauspferde, sondern eine Schwesternspezies. Ihre Stammeslinie trennte sich wohl schon vor rund 50.000 Jahren von der restlichen Pferdepopulation ab. Erst kürzlich gelang einem internationalen Forscherteam rund um den Molekularbiologen Dr. Ludovic Orlando von der Universität Kopenhagen dennoch der direkte genetische Vergleich zwischen unseren modernen Reitpferden und ihren schon lange ausgestorbenen Ahnen. Dazu sequenzierten die Wissenschaftler Genmaterial aus 43.000 und 16.000 Jahre alten Pferdeknochen, die in den Permafrostböden des nordrussischen Taymyr gut konserviert gewesen waren. Eigentlich gab es noch ältere Knochen. Schon 2013 entschlüsselte Orlando zusammen mit Kollegen das Erbgut eines 700.000 Jahre alten Urpferdes, dessen Überreste in den Permafrostböden Alaskas lagen. „Dieses Material war für den Vergleich mit den modernen Hauspferden aber zu alt, da es im Lauf der Evolution vor der Domestikation natürlich auch schon genetische Veränderungen gegeben haben kann“, erklärt der gebürtige Franzose. „Jüngere, also zum Beispiel 7.000 Jahre alte Knochenproben, wären aber auch nicht gut gewesen. Denn es ist ja nicht auszuschließen, dass Archäologen in Zukunft herausfinden, dass die Zähmung des Pferdes nicht erst vor 5.500 Jahren, sondern schon viel früher begann. Unsere Wahl ist also auf die Fossilien aus dem Jungpleistozän gefallen. Und das war ein guter Kompromiss.“ Wie genau die Urpferde, denen wir die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verdanken haben, aussahen, kann der Forscher nicht sagen. Es ist aber anzunehmen, dass sie weitaus kleiner und gedrungener als heutige Ponyrassen waren. Schließlich war der Hyracotherium, der vermutlich älteste Urahn der Pferde und Pferdeartigen (Esel und Zebras), der schon vor rund 50 Millionen Jahren mit drei Zehen und geflecktem Fell durch die sumpfigen Urwälder des Eozäns streifte, gerade mal fuchsgroß.
Zähmen durch Genveränderungen
Im Vergleich zwischen den beiden Urpferden, dem Przewalskipferd und den Vertretern fünf moderner Pferderassen – dem Islandpferd, dem norwegischen Fjordpferd, dem Vollblüter, dem Amerikanischen Traber und dem Arabischen Pferd – ermittelten die Wissenschaftler 125 Gene, die für ein großes Spektrum an körperlichen Eigenschaften und Verhaltenszügen verantwortlich sind. Bestimmte Gene für die Muskulatur, das Skelett und das Herz-Kreislauf-System wurden bei der Zuchtauswahl offenbar bevorzugt. So lässt sich auch erklären, wie aus kleinen, gedrungenen Wildpferden die modernen großen und gut bemuskelten Hochleistungssportler wurden. Eine entscheidende Rolle spielten offenbar aber auch solche Gene, die das Verhalten und die kognitiven Fähigkeiten der Pferde betreffen. „Dieser Aspekt ist besonders spannend, da er im Zentrum der Domestikation steht. Wir haben Gene entschlüsselt, die die Lernbereitschaft sowie das Angst- und Fluchtverhalten kontrollieren. Diese Gene dürften bei der Verwandlung von wilden Tieren zu leichter zugänglichen, zahmen Rassen eine zentrale Rolle gespielt haben“, so Orlando. Doch neben allen positiven Ergebnissen kamen die Forscher auch zu dem Schluss, dass die Jahrtausende lange Zuchtauswahl ihren Preis hatte. Domestikation und Inzucht haben zwar zur Entwicklung und dem Erhalt gewünschter Rassemerkmale geführt, aber eben auch dazu, dass sich unerwünschte Genmutationen ausbreiten konnten. In der Fachsprache wird das die „genetische Last“ der Domestikation genannt – ein Phänomen, das bereits bei Hunden, Tomaten und Reis nachgewiesen werden konnte.
Inzucht schränkt genetische Vielfalt ein
Doch nicht nur bei den domestizierten Hauspferderassen, sondern auch bei den Przewalskipferden, die während und nach der letzten Eiszeit in kleinen Haremsgruppen auf den eurasischen Steppen lebten, entdeckten Orlando und sein Team eine vergleichbar hohe Zahl an krankhaften Veränderungen im Erbgut. Ein auf den ersten Blick erstaunliches Ergebnis, das die Forscher mit der jüngeren Geschichte der ursprünglichen Rasse erklärten. Die Przewalskipferde waren Ende der 1950er Jahre nämlich fast ausgestorben, es gab nur noch 13 lebende Exemplare. Nur dank enormer züchterischer Anstrengungen von Tierärzten und Biologen des 1985 gestarteten „Europäischen Erhaltungszuchtprogrammes“ konnte die Art gerettet werden. Heute gibt es wieder rund 2.000 Przewalskipferde, die zum Teil in Zoos und Tierparks, aber auch wieder in freier Wildbahn leben. „Der hohe Inzuchtfaktor ist vermutlich für die große Zahl der Genmutationen verantwortlich“, sagt Orlando. Ein Problem, das nicht nur die 130 bis 140 Zentimeter großen Wildpferde, sondern auch unsere modernen Reitpferde betrifft. Ein hoher Inzuchtfaktor führt dazu, dass krankhafte Genmutationen schneller entstehen und sich leichter ausbreiten können. Er geht zudem zwangsläufig mit einer geringeren genetischen Vielfalt einher, die aber nötig wäre, um schädliche Genveränderungen züchterisch zu korrigieren. In vielen Rassen sind einige wenige Hengste übermäßig stark vertreten. Ganz extrem ist das zum Beispiel bei den Friesen, die alle auf einen einzigen Hengst, den 1885 geborenen Nemo 51 P, zurückgehen. „Aber auch in anderen Rassen, zum Beispiel im Dressurbereich, gibt es erhebliche Inzuchtprobleme. Bei den Arabischen Pferden haben wir das Glück, dass sie für verschiedene Bereiche, also zum Beispiel Schau, Rennen, Distanz oder Western, gezüchtet werden“, sagt Dr. Nils Ismer, Tierarzt, Araberzüchter und Vorstandsmitglied im Verband der Züchter und Freunde des Arabischen Pferdes (VZAP). „Das macht die genetische Breite automatisch größer. Trotzdem konzentrieren sich auch die Araberzüchter o auf die erfolgreichsten Hengste. So findet man zum Beispiel in sehr vielen Stammbäumen von Arabischen Pferden aus der Schauszene den 1995 geborenen Gazal Al Shaqab (Anaza El Farid x Kajora) vom Gestüt Al Shaqab in Qatar.“ Ismer empfiehlt Züchtern, den Inzuchtfaktor für geplante Anpaarungen berechnen zu lassen und vermehrt nach Alternativen zu den populärsten Hengstlinien zu suchen. „Die Zuchtverbände sollten vermutlich noch mehr Aufklärungsarbeit leisten. Im Endeffekt können wir aber nicht viel tun, außer an die Vernunft der Züchter zu appellieren.“ Dass die Situation für die Züchter nicht unbedingt einfach ist, weiß auch Ismer. In Zeiten, in denen die Vermarktung von Fohlen sowieso schon schwierig ist, verspricht die Anpaarung mit einem populären Hengst oft größere Verkaufschancen. Und auf die können nur die wenigsten Züchter im Interesse der genetischen Vielfalt verzichten.
Gentests im Kampf gegen Erbkrankheiten
Zumindest auf einem Gebiet haben es Züchter heute etwas einfacher als ihre Vorgänger: Dank der Molekulargenetik ist es seit einigen Jahren in immer mehr Fällen möglich, Träger von Erbkrankheiten, die auf Mutationen im Erbgut beruhen, zu bestimmen. Das ist besonders bei rezessiv vererbbaren Krankheiten interessant. Anders als dominante Erbkrankheiten brechen diese nämlich nur dann aus, wenn beide Elterntiere in ihren Chromosomensätzen betroffen sind. Ist die Ausprägung der Gene nicht gleich (homozygot), sondern unterschiedlich (heterozygot), kann das Pferd gesund, aber trotzdem ein versteckter Träger einer gefährlichen Erbkrankheit sein. Die Tatsache, dass man mit bloßem Auge nicht erkennen kann, ob ein gesundes Tier Träger einer Mutation ist, machte und macht Tierzucht manches Mal zum Glücksspiel. Paart man nämlich zwei Träger miteinander, liegt das Risiko, dass ein Nachkomme beide defekte Gene erbt und folglich auch erkrankt, bei 25 Prozent. Wird nun so ein klinisch gesunder Träger mittels Gentest identifiziert, muss er nicht unbedingt aus der Zucht ausgeschlossen werden, sollte aber nur gesunde, homozygote Partner bekommen. Unter den Nachkommen gibt es dann höchstens Träger, aber keine kranken Tiere. So schränkt man die Anzahl der möglichen Zuchttiere nicht zu drastisch ein, erhält damit die Genvielfalt und verhindert gleichzeitig den Ausbruch der Krankheit. Auf diese Weise lässt sich im Labor zum Beispiel einfach herausfinden, ob Overo-gescheckte Paint Horses, Araberkreuzungen und Pferde anderer betroffener Rassen Träger der Mutation am Endothelin-B-Rezeptor-Gen sind und damit das autosomal rezessiv vererbte Overo-Lethal-White-Syndrome (OLWS) weitergeben können, das bei betroffenen Tieren zu einem qualvollen Tod in den ersten Lebenstagen führt.
Die Regelungen in Bezug auf Gentests sind bei den einzelnen Zuchtverbänden unterschiedlich. Einige schreiben bestimmte Gentests für Zuchtpferde vor, andere sprechen bloße Empfehlungen aus. Sehr engagiert auf diesem Gebiet ist die Deutsche Quarter Horse Association (DQHA), die seit dem Deckjahr 2015 einen fünffachen Erbkrankheitentest für alle Hengste vorschreibt. Die Sorge des Verbands kommt nicht von ungefähr, denn 2009 veröffentlichten die Universität Kalifornien und die Universität Minnesota, die die Häufigkeit von Genträgern für Erbkrankheiten bei Quarter und Paint Horses untersucht hatten, alarmierende Hochrechnungen. Im Fokus der Studie standen das oben beschriebene OLWS, die unheilbare Stoffwechselerkrankung HYPP (Hyperkalemic Periodic Paralysis Disease), die Hauterkrankung HERDA (Hereditary Equine Regional Dermal Asthenia), die tödliche GBED (Glycogen Branching Enzyme Deficiency) sowie die Glucogen-Speicher-Störung PSSM (Polysaccharide Storage Myopathy), die vermutlich zu degenerativen Muskelerkrankungen mit einer Störung im Kohlenhydrat-Stoffwechsel führen kann. „Schätzungsweise 700.000 der 3,24 Millionen Quarter Horses sind bereits Träger eines der genannten Gendefekte“, so das Ergebnis der Studie.
© Dieser Auszug basiert auf einem Beitrag von Heidi van Elderen, der im Sammelwerk „Ausgewählte Hengste Deutschlands 2016/17“ erschienen ist.