Stutenstamm der Voga
Mit ostfriesischen Stutenstämmen ist es ein bisschen wie mit der lateinischen Sprache. Die ostfriesische Zucht gibt es nicht mehr und die lateinische Sprache ist tot, und dennoch beeinflussen beide in starkem Maße die Gegenwart. Der Stutenstamm der Voga ist ein herausragendes Beispiel für die bleibende Ausstrahlung der ostfriesischen Pferde auf die züchterische Gegenwart. Einer der ältesten und vor allem einflussreichsten Ostfriesen-Stämme ist die Familie der Voga, geb. 1912 v. Sigmar Derfflinger Sultan IIY. Cardinal, aus der Zucht der Witwe C. Kleihauer aus Wiesede. Voga und ihre Tochter Victoria (v. Xenon) gelangten gemeinsam in die Zuchtstätte A. Schoneboom (Suurhusen), der Voga mit Rubico anpaarte und die 1918 geborene Voga II züchtete. Beide Voga Töchter sorgten für die heute große Verbreitung dieses Stammes, der Ableger in Hannover, Holstein und vor allem in der Oldenburger Zucht vorzuweisen hat.
Die Züchterfamilie Kleihauer aus Wiesede hob den Stutenstamm der Voga aus der Taufe. Hinten (von links): Johann Helmerichs Kleihauer, Conrad Reinhard Kleihauer, Gerd Janssen Kleihauer. Vorne (von links): Marie Kleihauer, Tina Kleihauer geb. Dirks und Meta Kleihauer © Privatsammlung Cornelia Kleyhauer[/caption]
Der stärkste Zweig basiert auf der 1956 geborenen Vesta I (v. Echo u. Vesta v. Grumbach III u. Voga II), die in der Zuchtstätte O. Wessels (Weel-Aland) konsequent mit dem Wind ox-Sohn Wingolf angepaart wurde. Ihr 1952 geborener brauner Hengstsohn Wildschütz, stationiert in Bagband und bei der Hengsthaltungsgenossenschaft Etzel, wurde einer der bedeutendsten Vererber in der späten Phase des ostfriesischen Stutbuchs. Er erhielt die 1a-Nachzuchtprämie, war DLG Teilnehmer und bester Althengst auf den Auricher Körungen 1961 und 1962, deckte bis 1966 und hinterließ neben wertvollen Töchtern vier gekörte Söhne (Wieland, Wilderer, Wildfang und Wildling), die jedoch in der Untergangsphase der Ostfriesenzucht keine nennenswerte züchterische Bedeutung mehr erlangen konnten. Wildschütz tauchte oft im Pedigree bedeutender Springpferde auf, u. a. war er Muttervater des Mozart Sohnes Musikant 3/Christian Engfer, des Presto Sohnes Pinball/Jörg Münzner (AUT) und des Sendbote-Nachkommen Sir 51/Heinz Heckmann. Bei dem sagenhaften Stanley 4 (v. Sirius Gazal/Ar.), der mit Manfred Schildt und Jürgen Ernst lange Jahre S-Erfolge feierte, stand er in dritter Generation.
Der ganze stolz der Familie Kleihauer: Eine ihrer Stuten mit Nachzucht. Ob das Bild Voga zeigt, ist leider nicht bekannt © Privatsammlung Cornelia Kleyhauer[/caption]
Das Jahr 1995 wird Bodo Willms unvergesslich bleiben: Seine Sion-Tochter Viktoria B (a. d. Veronique v. Landadel u. Verona v. WeltmeisterVolturnoManolete xx) stand ganz vorn bei der Oldenburger Elite-Stutenschau im Schlosspark zu Rastede. Sie wurde später zweifache Hengstmutter: Unter „Rückvergütung“ auf das Blut des Landadel brachte sie mit Landor S 1996 zunächst den hellbraunen Larius, der auf der Station Rathke (Buckau/Brdbg.) gedeckt hat, und zwei Jahre später den dunkelbraunen Luberon, der im bayerischen Haupt und Landgestüt Schwaiganger zum Einsatz kam. Auch Viktoria Bs Mutter Veronique wurde Hengstmutter: Sie brachte mit Rohdiamant den gekörten Sohn Rabano, der bei Josef Estendorfer (Hohenbrunn/Bayern) kurz in der Zucht stand und später SErfolge mit Wolfgang Schade verzeichnete. Das beste Dressurpferd dieses Stammes ist bis heute der dunkelbraune hannoversche Wallach Wotticelli SW (v. World Cup II Markus Wingolf Echo Grumbach III), der unter Isabell Werth internationaler Grand-Prix-Sieger war. Wotticelli stammt aus der Zucht von Jannes Wessels (Krummhörn) und geht auf die braune Venna, zweite, 1955 geborene Vollschwester des Wildschütz, zurück, die mit der Nummer 8914 ins hannoversche Vorbuch eingetragen wurde.
Die ostfriesischen Arbeitspferde mussten hart, kräftig und genügsam sein © Privatsammlung Cornelia Kleyhauer[/caption]
Bedeutung erlangte auch der Zweig der 1969 geborenen Fuchsstute Aloysia (v. Abstand u. Volma v. Ehrenfels u. Voske II v. Eggert u. Voske v. Ebenholz u. Voga II), die bei Dubravka Conradshaus (damals Osterwald-Hohenkörben, später Hoogstede) in der Zucht stand. Dubravka Conradshaus hielt noch einen weiteren Ostfriesenstamm, der später über die Hengste Welt Hit IVI zu großer Bedeutung kommen sollte. Im hiesigen Fall hat sie jedoch selber nichts zur Verbreitung beigetragen, entscheidend war vielmehr der Verkauf der damals dreijährigen und in mäßigem Futterzustand befindlichen Aloysia I, abstammend von dem überragenden Springpferdemacher Salut, im Jahr 1986 an Manfred Langelüddecke aus Klein Vahlberg (Kreis Wolfenbüttel). Langelüddecke ist Oldenburger Delegierter für den Bereich Südhannover und vermochte gemeinsam mit seiner Frau Brigitte aus dieser Stute ein großes züchterisches Vermächtnis zu entwickeln. Zunächst herrschte die Zucht von Springpferden vor. Von hoher Klasse war beispielsweise der 1993 geborene Aloysia-I-Sohn Grandalero (v. Grannus), der mit verschiedenen Reitern (FriedrichWilhelm Koller, Henrik Griese) in S-Springen siegreich war. In vielen Pedigrees der Pferde der Familie Langelüddecke, die in den letzten Jahren schwerpunktmäßig Dressurpferde gezüchtet hat, finden sich die Multivererber Akzent II (über Aloysias Tochter Aida, Rappe, geb. 1988) und Argentinus (über deren Tochter Aurora, geb. 1994). Gekörte Hengste wie Sonnenreiter (v. Sir Donnerhall I-Lord Sinclair I-Argentinus-Akzent II-Salut, heute erfolgreiches Dressurpferd in Rheinland-Pfalz) oder auch Summersby (v. Sandro Hit-Donnerhall-Akzent II-Salut) gehen auf diese Ursprünge zurück. Sonnenreiter ist Vollbruder zu der herausragenden Dressurstute Scholastica/Amy Swerdlin (USA). Zahlreiche Auktionspferde bereicherten über die Jahre die Bühne der Oldenburger Eliteauktionen in Vechta. Die Springschiene dieses mit Hingabe gepflegten Stammes, wurde zwar in den letzten Jahren eher auf Sparflamme gehalten, dennoch gibt es einen hochaktuellen Vertreter: Banderas DSF, brauner Sohn des Balou du Rouet aus einer Grannus-Beach Boy-Salut-Mutter, der in Kanada bei Jennifer und Armin Arnoldt (Dreamscapefarm, Langley) für Furore sorgt und dessen Nachkommen sich dort großer Beliebtheit erfreuen. Banderas’ Mutter Grisette wurde auch Großmutter des gekörten Hannoveraner Schimmelhengstes Coblesse (geb. 2010, v. Cristallo I-Argentinus-Grannus, Z.: Nicole Nehm, Bergen), der unter Christian Temme 2016 Springpferdeprüfungen gewonnen hat. Züchterisch kam er in den Niederlanden zum Einsatz.
Die Geburtsstätte des Stutenstamms der Voga: Der Hof Kleihauer in Wiesede um das Jahr 1928 herum © Privatsammlung Cornelia Kleyhauer[/caption]
Sicherlich ist es Zufall, dass nur einen Steinwurf von der Zuchtstätte Langelüddecke entfernt ein weiteres Spitzenpferd dieses Stammes für Furore sorgte: die Schimmelstute Grand Lou Lou 2, die der heutige Präsident des Pferdesportverbandes Hannover und ebenfalls amtierende stellvertetende FN-Präsident Axel Milkau (Braunschweig) über Jahre erfolgreich in S-Springen geritten hat. Sie war eine Tochter des Godewind aus dessen Wirkungszeit in Cremlingen (1990/91) und wurde 1991 bei Werner Hoffmeister in Warberg (Kreis Helmstedt) gezogen. Ihre schwarze Mutter Abendblut führte mit Atheist-Kadett-Sirius bereits drei Generationen Hannoveraner Hengste und stammte aus der Zucht von Jakob Schmidt in Friedeburg, früher einer der führenden ostfriesischen Privathengsthalter und später Leihhengsthalter des Landgestüts Celle. Die hannoverschen Rappen Kadett und Sirius, beide im Pedigree von Grand Lou Lou vereint, haben der ostfriesischen Zucht auf dem Wege zum modernen Sportpferd erstklassige Dienste geleistet. Weniger bekannt ist Grand Lou Lous Muttervater Atheist. Der mittelrahmige Fuchs stammte aus dem ersten Jahrgang des Argentan I und hatte eine Duden-II-Stute zur Mutter, war also Dreiviertel-Bruder des später zu hohen Ehren gelangten Argentinus. Als 1976 die ostfriesischen Stationen erstmals vom Landgestüt Celle besetzt wurden, gab er seinen züchterischen Einstand in Friedeburg. Aufgrund der eher mäßigen Hengstleistungsprüfung und der knappen Größe erhielt er von den ostfriesischen Züchtern, die den neuen Verhältnissen ohnehin eher abwartend bis misstrauisch gegenüberstanden, keine allzu großen Chancen. Nach Ende der Decksaison 1977 wurde er kastriert und verkauft an die Bayerische Landes-Reit und Fahrschule, wo er etliche Jahre als Schulpferd ging und auch einige Turniere bestritt. Atheist hat sich dennoch in mehreren Stämmen verankern können und einige gute Sportpferde gezeugt. Grand Lou Lou ging nach ihrer Sportkarriere bei Günter Brattka (Breitenrode/SachsenAnhalt) in die Zucht und brachte aus Anpaarung an den Holsteiner Acadius die OS-Schimmelstute Annabell 451, die nach vorbildlicher Ausbildung bei Oliver Klüsener (Wörmlitz) heute der Enkelin ihres Züchters als Juniorenpferd dient. 2016 war Annabell mit Ann-Marie Brattka erstmals S-platziert und Landesmeisterin der Junioren in Sachsen-Anhalt. Annabell und ihre Mutter Grand Lou Lou repräsentieren den Zweig der Vini (v. Sirius u. Veronika v. Wilko u. Veilchen 52135 Astor u. Violine 48424 v. Echo u. Vesta v. Grumbach III u. Victoria v. Xenon u. Voga).
Gerd, Johann, Conrad und Tina Kleihauer bei der Arbeit mit ihren Pferden im Jahr 1910 © Privatsammlung Cornelia Kleyhauer[/caption]
Außergewöhnliche Stämme haben oft auch ungewöhnliche Geschichten, und es war und ist keineswegs alltäglich, dass ostfriesische Stämme in Holstein Verbreitung gefunden haben. Im vorliegenden Fall allerdings schon. Doch noch ehe dieser Zweig in Holstein zu weiterer Entfaltung kam, lieferte er einen der bedeutendsten Hengste in der Spätphase des ostfriesischen Stutbuches: den braunen Halef (v. Haladin ox u. Victoria II v. Gilbert u. Victoria v. Gote u. Vizenzi I v. Egon u. Vizenzi v. Grumbach III u. Victoria v. Xenon u. Voga), Jahrgang 1958, gezogen bei J. Klugkist (Engerhafe). Von 1961 bis 1965 stand der temperamentvolle und antrittsstarke Hengst im Deckeinsatz und lieferte vier Söhne (die Vollbrüder Hadrian und Hartmut, ferner Hartwig und Hanno), die jedoch in dem mit massivem Hannoveraner Einsatz betriebenen Umformungsprozess kaum noch Chancen erhielten. HalefTöchter verankerten sich jedoch nachhaltig in mehreren noch heute aktiven Stämmen, so u. a. auch im Ostfriesenstamm 89/ Morgenglück, der kurioserweise ebenfalls in Holstein Wurzeln schlug (Stammnummer 8793) und u. v. a. die stark holsteinisch geprägten Bayern-Vollbrüder Lord Sinclair I, II und III hervorbrachte.
Bedeutender Wildschütz
[caption id="attachment_201131" align="alignleft" width="450"]Fortsetzung in Oldenburg
Zwei Vollschwestern zu Wildschütz brachten den Stamm in die Breite: Die 1956 geborene Victoria sollte dabei die größere Bedeutung erfahren. Ihr Besitzer Hans Siemering (Aurich) paarte sie bereits 1964 in großer Weitsicht mit dem Vollblüter Manolete xx an und setzte fortan auf den Oldenburger Verband, was ihm die Schmach der Herabwürdigung seiner Stuten ins hannoversche Vorbuch ersparte. Vroni hieß die 1965 geborene und noch ostfriesisch gebrannte Rappstute, die vorzugsweise von Furioso II fohlte. Besonders bemerkenswert erscheint ihr 1980 geborener Rapp Sohn Forty Niner, der 29 M-Dressuren und sechs M-Springen gewann und vielfach in S-Dressuren platziert war. [ihc-hide-content ihc_mb_type="show" ihc_mb_who="4,3" ihc_mb_template="3" ] Seine 1973 geborene dunkelbraune Halbschwester Vrona, abstammend von dem Dreiviertel Blüter Volturno, der mit Otto Ammermann Olympia und Championatsmedaillen holte, wurde zur Stammstute bei Bodo Willms (Oldenburg). Für den heute schon langjährigen stellvertretenden Vorsitzenden des Oldenburger Pferdezuchtverbandes, gingen mit diesem Stamm gleich mehrere Züchter Träume in Erfüllung: einmal an der Spitze der Elite Stutenschau in Rastede zu stehen, internationale Sportpferde und gekörte Hengste zu züchten. Sein erstes Meisterstück war die 1978 geborene braune Stute mit dem bezeichnenden Namen Flying High 2 (v. Furioso II u. Vrona), die unter dem heutigen OS-Körkommissar Peter Weinberg zu etlichen Höhenflügen ansetzte: Etliche Male übersprang die SB-Spezialistin die Zwei-Meter-Marke, nachdem sie zuvor auch in Vielseitigkeitsprüfungen mit dem ehemaligen Championatsreiter Ralf Ehrenbrink platziert war. Flying Highs ein Jahr ältere Halbschwester Verona (v. Weltmeister) war ausnahmslos Zuchtstute und wurde sowohl bei Bodo Willms als auch später bei Heinrich Asche (Großenkneten) vorzugsweise mit dem Holsteiner Landadel angepaart. Sie brachte acht platzierte Sportpferde, von denen der Strohmann-xx-Sohn Sympatico 15/Gabriele Steffan auf Grand-Prix-Ebene der erfolgreichste war. [caption id="attachment_201137" align="alignleft" width="312"]Dressurpferde aus Vahlberg
[caption id="attachment_201139" align="alignleft" width="309"]Milkaus Erfolgspferd
[caption id="attachment_201141" align="alignleft" width="450"]Halefs Töchter
[caption id="attachment_201145" align="alignleft" width="450"]Ableger in Holstein
Halefs Mutter, die 1952 geborene Rappstute Victoria II, wurde 1962 an den damals in Sudweyhe stationierten Hannoveraner Rappen Ernö angepaart. Die 1963 geborene Tochter fand später Aufnahme als Vorbuchstute im Holsteiner Stutbuch und fohlte bereits dreijährig von dem Anblick-xx-Sohn Akkord: Brictoria hieß die erste Holsteiner Stute dieses Stammes, Jahrgang 1966. In der Zuchtstätte von Walter Werkmeister (Daldorf) gelangte dieser Stamm zu einiger Bedeutung. Brictorias Tochter Irmelind (v. Rhadames) und deren Töchter Prictoria (v. Marmor) und Sitoria (v. Calvados I) brachten ihn in die Breite, sodass er als einer von etwa fünf Ostfriesenstämmen auch eine Holsteiner Stammnummer erhielt: Stamm 8819 ist seit den 1980erJahren das Markenzeichen für Pferde dieser Linie, die bereits einige gekörte Hengste aufzuweisen hat. Der 1992 in den Niederladen rein holsteinisch gezogene Schimmel Karthago (v. Alasca-Lord Calando-Fasolt-Marmor-Rhadames, Z: Werner Boeve, Lemelerveld/NED) ist deren bedeutendster geworden. Karthago deckte von 1995 bis 1999 in Lemelerveld und wurde dann verkauft in die USA. 94 Nachkommen wurden in den Niederlanden registriert. Bekannt wurde aus diesem Zweig auch das international erfolgreiche Springpferd Respect 2 (v. RamiradoAhorn ZMarmor-Rhadames, Z.: Laurids Hommelhoff, Vojens/DK), das mit verschiedenen Holsteiner Reitern (u. a. Björn Nagel, Thieß Luther, Takashi Haase) erfolgreich war. Insgesamt ist die Ostfriesen-Familie der Voga ein Stutenstamm mit großer Tradition und erstaunlich weiter Verbreitung, wobei die Zusammenhänge und Fortsetzung der einzelnen Zweige nur durch intensive Recherche hergestellt werden konnten. Dabei ist es erstaunlich, wie viele prominente Reiter und Züchter sich im Laufe der Jahre mit Pferden aus dieser Linie beschäftigt haben bzw. dies bis heute tun. [/ihc-hide-content] © Dieser Auszug basiert auf einem Beitrag von Claus Schridde, der im Sammelwerk „Ausgewählte Hengste Deutschlands 2018/19“ erschienen ist.
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