Clemens von Nagel – Pferdemann und Visionär (Teil 3)

Ramzes AA wegweisend

[caption id="attachment_203667" align="alignleft" width="450"] Pernod xx prägte entscheidend die Zucht im Gestüt Vornholz, sportlich war er ein Multitalent.
© Archiv Schloss Vornholz[/caption] Infolge des altersbedingten Ausscheidens der Vornholzer Hengste Marcellus xx, Oxyd xx und Pernod xx sowie durch den Weggang des Ausbildergespanns Lörke/ Schultheis richtete Baron von Nagel sein Augenmerk stärker auf den zum damaligen Zeitpunkt noch recht kleinen Springstall. Mit dem Ankauf der polnischen Schimmelhengste Ramzes AA und Krol Walca steckte der Baron ein neues Ziel für seine Zucht. Vornehmlich die Töchter des Oxyd bildeten den Grundstock für den Erfolg des Ramzes AA, der aus heutiger Sicht einer der bedeutendsten Leistungsvererber der deutschen, wenn nicht europäischen Warmblutzucht nach dem 2. Weltkrieg ist.

Ramzes AA war während des 2. Weltkrieges zunächst als Remontehengst im polnischen Janow Podlaski eingesetzt, später aufgrund der Kriegsentwicklung nach Grabau verlegt und bei Kriegsende an den polnischen Offizier Witalis Bielecki gekommen, der ihn auf den ersten Turnieren der Alliierten nach dem Krieg ritt. Von Nagel kaufte ihn, nicht zuletzt weil er seine Qualitäten kannte. Ramzes AA bestritt unter Micky Brinkmann erfolgreich eine Reihe von M-Springen, bis er sich das Fesselbein brach. Mit unglaublicher Geduld ertrug er seine Verletzung und trug so zu seiner Genesung bei, erholte sich und blieb der Zucht erhalten. Bereits in seinem Deckeinsatz in Polen hatte er sehr gute Jagd- und Springpferde gemacht, mehr im Huntertyp seines Vaters Rittersporn xx als im arabischen Typ seiner Mutter Jordi. Genau dies kam dem Vornholzer Zuchtziel mit seinen vornehmlich Beberbecker, Holsteiner und hannoverschen Stuten sehr entgegen. [caption id="attachment_203669" align="alignleft" width="450"] Polnische Gestütswärter üben unter der Anleitung von Clemens von Nagel eine Quadrille
© Archiv Schloss Vornholz[/caption] Bei den Westfalen wurde Ramzes AA zunächst in die Zuchtwertklasse IV eingestuft, die Holsteiner zeigten weniger Zurückhaltung und sicherten sich den Hengst für zwei Decksaisons (1951 und 1952, später nochmal 1959/1960). Der beispiellose Siegeszug des Anglo-Arabers nahm seinen Anfang: Während er (der ausnahmslos seine Schimmelfarbe vererbte) in Holstein Spitzenspringpferde wie Ramona (Alwin Schockemöhle), Retina (Fritz Thiedemann), Romanus (Hans Günter Winkler) und Ramzes XIII (Kurt Jarasinski) sowie hochklassige Töchter und gekörte Söhne lieferte, brachte er in Westfalen Talente fürs Viereck, zum Beispiel Mariano (Silber und Gold 1968 in Mexiko unter Josef Neckermann), Tiga (Grand Prix-Pferd unter Heinz Lammers) und den aus einer Abdel Krim-Hersdorf gezogenen Remus (Silber und Gold in Tokio 1964 unter Harry Boldt), um nur einige zu nennen. In der westfälischen Zucht war es der Ramzes AA-Sohn Ldb. Radetzky, ein Vollbruder des Mariano, der als Kronerbe des Ramzes-Blutes galt. Dieser Schimmel, gezogen in Vornholz, aus der hochedlen Malta von Oxyd (a. d. Meerfahrt von Meleager, den von Nagel aus seiner Zeit in Beberbeck, Warendorf und Racot kannte), wurde Warendorfer Landbeschäler und war das beste Beispiel der hervorragenden Reitpferdeeigenschaft en, die Ramzes AA vererbte. Radetzky war bis Grand Prix ausgebildet und wird mit Blick auf seine Vererbungsleistung mit Hengsten wie Duellant und Abglanz gleichgesetzt. Als Ramzes AA mit fast dreißig Jahren nach 18-jähriger Decktätigkeit 1966 eingeschläfert wurde, wurden die Freunde dieses Hengstes mit einer eigens gedruckten Karte benachrichtigt; seine Geschichte war noch nicht zu Ende, sie begann gerade erst – und hält bis heute an. Der andere Polen-Import, der o. g. Krol Walca, ein etwas derber Dunkelschimmel, stammte vom Vollblüter Jantos xx, der in Racot gewirkt hatte. Krol Walcas Mutter Warszawianka (siehe oben) war ohne Zweifel das erfolgreichste Springpferd Polens in den 20er- und 30er-Jahren und nahm an den Olympischen Spielen 1936 in Berlin teil. Krol Walca stand immer im Schatten von Ramzes AA und wurde vornehmlich für die eigenen Vornholzer Stuten benutzt; unter anderem brachte er das Springpferd Feuerdorn (H.G. Winkler).

Holsteiner Stuten geadelt

[caption id="attachment_203671" align="alignleft" width="295"] Ramiro, eine Hengstlegende mit Weltformat.
© Bernd Eylers[/caption] Die Erfolge der „Ramzes-Expedition“ im Land zwischen den Meeren ließen Clemens von Nagel, diesen von der Norm abweichenden, genialen Horseman, dem das Brandzeichen nie zur Ersatzreligion geworden war, schnell umdenken. In den 50er-Jahren, als durch die unaufhaltsame Motorisierung in der Landwirtschaft  die schweren Holsteiner alten Schlages verschwanden, kaufte Clemens von Nagel gezielt einige dieser Stuten aus bewährten Springstämmen. Er war überzeugt, dass eine edle Sportpferdezucht an gewisses Maß an Substanz und Kaliber benötigt. Das schien ihm durch die kalibrigen Stuten „mit den gemeißelten Köpfen auf Wikingerhälsen“ (Gustav Rau) gewährleistet. Gleichzeitig mit diesen Stuten kauft e er den Landbeschäler Herold v. Herder-Makler I vom damals kurz vor der Schließung stehenden Landgestüt Traventhal. Herold war ein Erhalterhengst alten Typs, der in Holstein „unmodern“ geworden war und gehäuft  das Springblut der holsteinischen Favorit-Tobias-Linie führte. Clemens von Nagels neues Konzept lautete nun: Verankerung des natürlichen Springvermögens, der Springfreudigkeit, Leistungsbereitschaft  und Unverdrossenheit des Holsteiners in der Vornholzer Zucht auf drei Wegen: einmal durch holsteinische „Reinzucht“, durch die Kombination der angekauft en Holsteiner Stuten mit Herold, zweitens durch Anpaarung dieser Stuten mit Veredler-Hengsten wie Ramzes AA und Vollblütern wie Usurpator xx und drittens, umgekehrt, Anpaarung der Altvornholzer Stuten mit Herold. Aus diesen Kombinationen entstanden im Laufe der nächsten Jahre Pferde, die dem Gestüt neue sportliche und züchterische Impulse und Erfolge brachten. [ihc-hide-content ihc_mb_type="show" ihc_mb_who="4,3" ihc_mb_template="3" ]Besonders hervorgetan haben sich als Mutterstuten die sporterfolgreiche Heideblume von Heidebauer-Loretto-Heinitz, Mutter des Goldmedaillenpferdes Robin v. Ramzes und weiterer S-erfolgreicher Nachkommen, Nachtrose von Fangball-Loretto-Lorenz, Mutter des in Westfalen erfolgreichen Deckhengstes Roderich v. Ramzes, Laute von Fanatiker-Nubier-Neptun, Mutter des Vornholzer Vererbers Romanow v. Ramiro, und Pomeranze v. Löwenjäger, Mutter des international erfolgreichen Springpferdes Fatinitza v. Ramiro. Ein besonderer Glücksgriff  gelang Baron von Nagel mit dem Kauf der Stute Valine von Cottage Son xx-Logenschließer-Favorit, die tragend nach Westfalen kam und hier im Mai 1964 ein Hengstfohlen von Raimond (v. Ramzes) bekam: Ramiro, eine Hengstlegende mit Weltformat und ein gewaltiges Sportpferd mit Ausnahmequalitäten, aber auch ein Streitpunkt zwischen dem westfälischen Zuchtverband und von Nagel, der sich über viele Jahre hinzog. Der kapitale Braune, oft  als erster Euro-Hengst bezeichnet, hinterließ unvergessliche Sportkinder wie Ramzes (Mannschaftsbronze Olympiade Los Angeles), Rodney, Rosella G (zweifache Bundeschampionesse Springen) und die Spring-Ikone Ratina, vererbungsstarke Töchter, die bis heute wirken, zum Beispiel Ramira, die Mutter des zweifachen Bundeschampions Springen Monte Bellini, oder Ramiros Söhne bzw. Enkelsöhne wie Ramirado bzw. Rockwell, Rock for Ever und Revolverheld. Dies alles war möglich, obwohl man ihn anfangs nur in Zuchtwertklasse IV (nur für Stuten des Hengsthalters) einstuft e. Wie sportlich talentiert Ramiro war, belegt seine erste Sportsaison 1971 als 6-Jähriger unter Fritz Ligges: anfangs noch in L- und M-Prüfungen ging es Ende 1971 bereits über ländliche S-Parcours – und 1973 bei der EM in Hickstead landete er auf Platz 8.

Leistungsschub  „à la France“

[caption id="attachment_203673" align="alignleft" width="450"] Das internationale Sportpferd Retina, eine Tochter des Ramzes AA © Archiv Schloss Vornholz[/caption] In den 70er-Jahren stand der Vornholzer Gestütsherr vor der Aufgabe, die zu enge Blutbasis seiner Zucht zu erweitern, denn die eingesetzten Stuten führten ein- oder mehrfach Ramzes-Blut. Um sich nicht der Gefahr der Inzucht auszusetzen, durfte nur beschränkt weiteres R-Blut über seinen Enkel Ramiro und dessen Sohn Romanow eingebracht werden. Von Nagel erinnerte sich an die gute Wirkung anglo-arabischen Blutes in seiner Zucht und in Leistungszuchten überhaupt. Er erwarb den großrahmigen anglo-arabischen Vollblüter Kallistos, geboren 1970, der als Sohn des Arabers Djerba Qua ox und der Keseybiss, eine springgeprüfte Hauptgestütsstute in Pompadour, Nachfahre einer im Renn- und Hindernissport renommierten Familie ist. Die Entscheidung war erwartungsgemäß richtig: Kinder (aus Vornholzer Zeit wie auch aus dem späteren Einsatz bei Familie Lackner in Borgholzhausen) dieses Schwarzbraunen machten vom Fleck weg im Sport auf sich aufmerksam, Mütter dieser Sportler waren häufig Töchter des Ramiro. Erfolgspferde wie Korsar (Fritz Ligges) und Kaktus sowie Kalypso (Ulrich Meyer zu Bexten) belegten die Richtigkeit dieses züchterischen Konzeptes. Das letzte Kapitel der Vornholzer Zucht schließlich schrieb noch einmal ein Holsteiner. Vierzehn Tage vor seinem Tod einigte sich Clemens von Nagel mit dem damaligen Geschäftsführer des Holsteiner Verbandes, Johann Maas Hell, über die Anpachtung eines Junghengstes. Es handelte sich um keinen anderen als Caletto I v. Cor de la Bryère, der seinen ersten Deckeinsatz als junger, unbekannter und nicht unumstrittener Hengst in Vornholz begann. Das westfälische Pferdestammbuch verweigerte ihm die Anerkennung, aber die fünf Stutfohlen, die er in dieser halben Saison produzierte, gingen ihren Weg: als Siegerstute der Dreijährigen, als Sportpferd oder als Stammmutter von Erfolgspferden. Caletto I, selbst unter Michael Rüping erfolgreich in Championaten, stand jahrelang in jeder Zuchtwertschätzung ganz oben.

Tradition und Verbundenheit

[caption id="attachment_203675" align="alignleft" width="450"] Der Schimmel Radetzky (geb. 1951) revolutionierte die westfälische Zucht.
© Landgestüt Warendorf[/caption] Von Nagel, kein Ewig-Gestriger, hat sich an die Lebensstationen, die ihn besonders berührt haben, stets aktiv erinnert und die Freundschaft  mit den damit verbundenen Personen gepflegt. Besonders die Zeit in Beberbeck und in den Kavallerieregimentern lag ihm am Herzen. Bis zu seinem Tod fanden jährlich sogenannte „Beberbecker Treffen“ statt. Hierzu wurden die ehemaligen Mitarbeiter, die teilweise im Landgestüt Warendorf untergekommen waren, sowie Mitglieder der eigenen Familien nach Vornholz eingeladen. Das gedruckte Programm sah eine Besichtigung der Hengste und Stuten sowie der jungen Jahrgänge und einer Reitabteilung vor, anschließend saß man an einer Kaffeetafel beziehungsweise beim Abendessen gemütlich beisammen. In größeren Abständen wurden Regiments- und Husarentage auf dem Schloss abgehalten. Vor großer Zuschauerkulisse erschallte Marschmusik von englischen und deutschen Kapellen, vorgetragen über die Wiese vor dem Schloss. ReiterInnen (darunter Olympiasieger Fritz Ligges, der ehemalige Vorsitzende des Westfälischen Pferdestammbuches, Gustav Meyer zu Hartum, und die langjährige Vornholzer Gestütsleiterin und ehemalige Chefredakteurin des St. Georg, Gabriele Pochhammer) in traditionellen Uniformen beziehungsweise im Damensattel marschierten auf und zeigten reiterliches Können, Husarenkommers und Manöverball bildeten den Abschluss dieser Traditionstage.

Viele Spuren bleiben

[caption id="attachment_203677" align="alignleft" width="323"] Ramzes AA, eine Vererber-Legende © Archiv Schloss Vornholz[/caption] Clemens Freiherr von Nagel-Doornick blieb keine Zeit mitzuerleben, wie richtig auch diese von ihm eingeleitete fünfte Phase für das züchterische Gesamtkonzept seines in Westfalen, ja in Deutschland einmaligen Privatgestüts der Leistungspferdezucht war. Er starb nach einem Leben, welches durch Pferde von Anfang bis Ende geprägt war, im September des Jahres 1977. Der Gestütsbetrieb wurde eingestellt, der Pferdebestand fast gänzlich verkauft. Geblieben sind vor allem die vielen Spuren der Hengste Ramzes AA, Radetzky und Ramiro, oder der Stuten, wie Adria, die über ihren Pluchino xx-Sohn Perseus und dessen Sohn Pilatus Urgroßmutter der Welthengste Pilot und Polydor wurde, alles Pferde, die Westfalens Zucht Weltgeltung verschafft haben und den Pferdesport weitergebracht haben.           [/ihc-hide-content] © Dieser Auszug basiert auf einem Beitrag von Franz-Josef Neuhaus, der im Sammelwerk „Ausgewählte Hengste Deutschlands 2014/15“ erschienen ist.