Clemens von Nagel – Pferdemann und Visionär (Teil 1)

[vc_row][vc_column][vc_column_text]Der westfälische Adlige Clemens von Nagel gehört zu den Menschen, die in der Pferdezucht und im Pferdesport unauslöschbare Spuren hinterlassen haben. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, seinen Lebensweg darzustellen und die Stationen zu beschreiben, die auf ihn einen nachhaltigen Eindruck machten und sein Leben beeinflussten.   Mit Clemens Freiherr von Nagel verbinden sich Begriffe wie Gestüt Vornholz und Ramzes AA, die Stutenfamilie der Kebandina und Ramiro. Doch da gab es noch mehr, vor allem seine Lebensgeschichte mit den Stationen wie Wickrath, Beberbeck, Warendorf und Racot oder die Zeit als Kavallerist. All dies prägte den jungen von Nagel und schärfte seinen Blick für das Pferd, das ihm vorschwebte: ein Leistungspferd für den Sport.

Geboren im Landgestüt Wickrath

Man schrieb das Jahr 1908, es war der 1. April: Der junge Paul von Nagel, bisher Mitglied einer sogenannten Remontekommission (Auswahl von Pferden für militärische Zwecke), erhielt seine Ernennungsurkunde als Gestütsdirektor für das preußische Landgestüt Wickrath (im ehemaligen Schloss der Reichsgrafen Quadt-Wyckradt-Hüchtenbruch). Seine „Besoldung erfolgt in vierteljährlichen Raten, zusätzlich wird Entschädigung für bare Auslagen gewährt und eine Dienstwohnung“, die sich im Schloss der Gestütsanlage befand. Im gleichen Jahr, einen Tag vor Heiligabend, wurden Paul von Nagel und seine Gattin Elisabeth Gräfin von Merveldt Eltern eines Jungen, der den Namen Clemens erhielt. Er war der Erstgeborene. In den 1880er-Jahren noch als „Ablagerungsstätte für züchterischen Bauschutt aus den Hauptgestüten“ bezeichnet, übernahm Paul von Nagel das auf höchstem Niveau stehende und fast ausschließlich auf Kaltblut-Hengsthaltung  spezialisierte Landgestüt Wickrath, das von Nagels Vorgänger zu außerordentlicher Qualität entwickelt hatten. Der Hengstbestand lag bei über 200 Vatertieren, der Bezirk des Landgestütes reichte vom Niederrhein bis nach Koblenz und in den Bereich des heutigen Saarlandes. Die Familie von Nagel wuchs, die Kinder Marie Luise, Josef, Georg und Franz wurden in Wickrath geboren. Der Gestütsdirigent war mit seiner Familie im Schloss untergebracht, das Gestütspersonal wohnte im Bereich der sogenannten Ewigkeit. Für den jungen Clemens wie für die Gestütskinder war der gesamte Gestütsbereich ein herrlicher Spielplatz. Besondere Attraktionen waren die alljährlichen Hengstparaden, die tausende von Besuchern aus der gesamten Provinz anzogen. Wie viel Gefallen der noch junge Clemens von Nagel an diesen „Kraftpaketen“ gefunden hatte, zeigt die Tatsache, dass er später (dies ist nur wenigen bekannt) auf dem geerbten Schloss Vornholz auch Kaltblüter züchtete, darunter gekörte Hengste wie Liktor sowie die Brüder Mentor I, II und III.

Neue Heimat: Hauptgestüt Beberbeck

[caption id="attachment_203559" align="alignleft" width="450"] Clemens von Nagel (rechts) während der Zeit in Beberbeck.
© Archiv Schloss Vornholz[/caption] Mitten im 1. Weltkrieg, im März des Jahres 1916, verstarb der Landstallmeister des Preußischen Hauptgestütes Beberbeck Eugen von der Marwitz. Nach kurzer Rücksprache mit dem Dirigenten von Wickrath versetzte die Preußische Gestütsverwaltung Paul von Nagel nach Beberbeck (Hessen). Beberbeck war 1876 aus einer bestehenden Gestütsanlage des hessischen Kurfürsten Wilhelm II. hervorgegangen. Einem Hauptgestüt wie Beberbeck (so auch u. a. Trakehnen) fiel die Aufgabe zu, für die Landgestüte qualitätsvolle und systematisch durchgezüchtete „Halbblut“-Hengste zu liefern, die als Garanten der jeweiligen gewünschten Blutführung und Rassenspezialisierung Kern und Grundstock für die Landespferdezuchten in den zu versorgenden Landgestüten eingesetzt wurden. Von 1905 bis 1922 lieferte Beberbeck 163 Land- und sechs Hauptbeschäler (pro Jahr 9,4 Beschäler), viele davon in die ost- und westpreußischen Landgestüte.   Ferner musste Paul von Nagel als Leiter des Hauptgestüts Beberbeck seine Mutterstutenherde (in Beberbeck waren dies rund 120 Stuten) laufend optimieren, d. h. durch junge Stuten ergänzen und für sogenannte Hauptbeschäler sorgen. Gerade die letzten beiden Aspekte waren eine sichtbare Demonstration des durch die Gestütsleitung im Einvernehmen mit der zentralen Gestütsverwaltung gesteckten Zuchtzieles. Im Mai 1917 wurde Ida von Nagel, die jüngste Schwester von Clemens, geboren; zu ihr hatte Clemens zeitlebens ein besonderes Verhältnis. Die beiden verband die Liebe zu den Pferden, zur Zucht wie zum Sport. [caption id="attachment_203561" align="alignleft" width="450"] Der Aktionstraber Nepal, einer der beliebtesten Hengste des Landgestüts Warendorf, in den 1930er-Jahren.
© Archiv Schloss Vornholz[/caption] In Beberbeck, circa 8,5 Kilometer vom kleinen Garnisonsstädtchen Hofgeismar mitten im Reinhardswald gelegen, bildete das Hauptgestüt gewissermaßen eine fast autarke Arbeits- und Wohnstätte. Denn neben der Pferdezucht betrieb man in Beberbeck Landwirtschaft; nicht nur, um die Pferde versorgen zu können, sondern auch, um die dort arbeitenden und lebenden Familien zu ernähren. Sämtliche Mitarbeiter besaßen Deputatvieh, Acker- und Gartenland für den Anbau von benötigten Futtermitteln und Gemüse für den eigenen Verzehr. Man lebte in gestütseigenen Häusern, hatte eine Schule auf dem Gelände des Gestüts (ein Klassenraum für alle Jahrgänge) und sogar einen eigenen Friedhof, man war eine große Gemeinschaft, vom Landstallmeister bis zum Ackerknecht. Waren die Kaltblüter in Wickrath ausschließlich Zugpferde vornehmlich für die Landwirtschaft, so zeichneten sich die Beberbecker als hoch im Blut stehende Reitpferde aus. Aufgezogen unter harten Bedingungen (die jungen Jahrgänge wurden im sogenannten Mauerpark der nahegelegenen Sababurg, einem Vorwerk von Beberbeck, gehalten) wuchsen hier Pferde heran, die im Ruf standen, besondere Leistungspferde zu sein. So besaßen die mit der Goldmedaille ausgezeichneten Olympiapferde von 1936, Kronos, Absinth und Nurmi, Beberbecker Ahnen. Clemens, der hier mit seinen Geschwistern einen großen Teil seiner Jugendjahre verbrachte, wurde schnell von seinem Vater in vielerlei alltägliche Dinge des Gestütsbetriebs einbezogen. Ob es die Auswahl der Partner für die gestütseigenen Stuten war, die Begutachtung der geborenen Fohlen, das Ausrangieren von Zuchtpferden oder die Feldbestellung auf den landwirtschaftlichen Flächen, an vielen Stellen ging er mit und genoss die Vorzüge, dass die Familie dort wohnte, wo der Vater arbeitete. Um die reiterliche Ausbildung von Clemens von Nagel kümmerte sich persönlich der langjährige Sattelmeister und ehemalige Manteuffel-Dragoner Wilhelm Großberndt. Nachdem bei Clemens die reiterlichen Grundlagen gelegt waren, wurde er schnell mit in den allgemeinen Ausbildungsbetrieb einbezogen. Dies schaffte viele Kontakte zu den Gestütswärtern und deren Kindern, die zu einem großen Teil sein Leben lang hielten und von Clemens gepflegt wurden. [caption id="attachment_203565" align="alignleft" width="450"] Caletto I stand lange in Zuchtwertschätzungen weit oben.
© Caletto I stand lange in Zuchtwertschätzungen weit oben.
© Bernd Eylers[/caption] Ein bedeutendes und ernstes Thema für Landstallmeister von Nagel war das Anfang der 20er-Jahre zeitweilige Auftreten von ansteckender Blutarmut im Bestand der Zuchtpferde von Beberbeck, ein Thema, welches auch seinen Sohn Clemens später bei seiner eigenen Zuchtarbeit in Vornholz beschäftigte. Das Ende von Beberbeck zeichnete sich bereits in der ersten Hälfte der 20er-Jahre ab, als die Anzahl der Halbblutstuten halbiert und um die gleiche Menge mit Kaltblutstuten aufgefüllt wurde. Grund war der Versailler Vertrag, der dem Kriegsverlierer Deutschland vorschrieb, seine Kavallerie-Regimenter drastisch zu reduzieren. Folge war der starke Rückgang der Nachfrage nach Militärremonten. Gleichzeitig verlangte die Landwirtschaft  aufgrund geänderter Wirtschaftsweisen nach mehr „Zugkraft “. Als dann die auftretende Wirtschaftskrise die Staatsfinanzen in eine immer stärkere Bedrängnis brachte, zog die Berliner Reichsregierung die Notbremse und verkaufte den Bestand an Halbblut-Zuchtstuten mit Nachzucht (rund 160 Tiere) für eine halbe Million Goldmark an den polnischen Staat, die Kaltblüter wurden auf andere Staatsgestüte verteilt. Als am 3. Dezember 1929 die letzten Gebrauchspferde in einer Hofauktion verkauft  und aus der Bahn geführt worden waren, erklang ein letztes Halali vom Uhrturm hinunter in den Hof des Hauptgestütes: Paul von Nagel, begleitet von seinem Sohn Clemens, zog den Hut und faltete seine Hände zu einem kurzen Gebet. Eine traurige Situation, die viele der Umstehenden sehr bewegte. Der Bläser auf dem Turm war der junge Emil Bremer, der später Hauptsattelmeister im Landgestüt Warendorf wurde.

Zurück nach Westfalen

Die Familie von Nagel ging nach Warendorf, zurück ins heimatliche Westfalen. Dort war die Stelle des Landstallmeisters freigeworden. Das staatliche Gestüt an der Ems war ein Landgestüt mit Warm- und Kaltblütern. Vor allem die Warmblutzucht hatte seit der Umstellung der Zucht auf hannoversche Grundlage eine rasante Entwicklung gemacht. Die Familie wohnte im Landstallmeisterhaus an der Sassenberger Straße. Von Warendorf bis zum Schloss des Onkels August von Nagel in Ostenfelde sind es gerade mal 15 Kilometer. Einige der Beberbecker Gestüter folgten ihrem Chef nach Warendorf, sehr zur Freude des Landstallmeisters und seiner Familie. So fiel allen der Neuanfang leichter. Der Reitunterricht für Clemens und seine Geschwister fand unter fast idealen Bedingungen statt: gedeckte Reitbahn, bestes Reitmaterial durch die vorhandenen Zuchthengste und ein Ausbilder mit bestem Renommee: Leopold Jacobowski. Zu den beliebtesten Pferden der Nagel-Kinder gehörten das Bewegungswunder, der Aktionstraber Nepal, und der Beberbecker Hengst Meleager, der für die Stutenfamilie der Dodona (Herbert de Baey) und seine Olympiapferde wie Ahlerich, Rembrandt und Amon in der Gegenwart Bedeutung erlangte. Hippologisch war das Landgestüt Warendorf aus dem Schatten seines großen Bruders Celle herausgetreten. 230 Hengste standen hier, darunter viele westfälische Eigengewächse, rund 80 Deckstellen wurden betrieben und eine gut ausgebildete Stammbelegschaft  war mit der Züchterschaft  in der Provinz fest vernetzt. Die Hengstparade in den 30er-Jahren, vor allem der römische Kampfwagen mit dem Gestüter Bernhard Nienaber an den Leinen von Schatzherr, Burgschwan, Amoroso und Amorso war reichsweit ein legendäres Spektakel.

Reiter 4 Potsdam

[caption id="attachment_203567" align="alignleft" width="450"] Clemens von Nagel © Archiv Schloss Vornholz[/caption] Clemens von Nagel, der seine Gymnasialbildung zeitweilig bei den Benediktinern im Kloster Ettal erhalten hatte, verpflichtete sich im Frühjahr 1929 (er war 21 Jahre), beim Reichsheer für 12 Jahre Dienst zu tun. Wie sein Vater, der u. a. beim Reiterregiment 4 gedient hatte, zog es auch den jungen Clemens zur Kavallerie nach Potsdam. Die „Reiter-4“ war eine Eliteeinheit und bestand aus vier Eskadronen, dem Stab und der Ausbildungseskadron; die Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften waren hochqualifiziert und sehr angesehen. Die schmucken Uniformen, der intensive Umgang mit den Pferden, ob beim Schwadron-Exerzieren, im Gelände oder in der Reitbahn, das Fluidum des alten geliebten Potsdam, die soldatenfreundlichen Bürger und die besondere Atmosphäre einer alten Residenz – das war wohl das Besondere, das auch Clemens anzog. Auch als das Regiment auf zwei Standorte (Potsdam und Perleberg) verteilt wurde, tat dies Clemens von Nagels Eifer keinen Abbruch. Seine Karriere war zielgerichtet: Fähnrich, Leutnant, Oberleutnant. Fragt man sich nach der Triebfeder für diesen Berufsweg, so waren es bestimmt nicht monarchistische Sehnsüchte oder eine Annäherung an den republikanischen Staat, sondern vielmehr die Möglichkeit, einen traditionellen Lebensstil (die Leidenschaft  für Pferde, den Reitsport und die Jagd als Elemente einer adligen Lebenswelt) und militärische Arbeit sinnvoll miteinander verknüpfen zu können. Dass am Ende besonders die Kavallerie (das Reiterregiment 4 wurde 1935 aufgelöst) unter einem enormen Veränderungsdruck stand, war sicher tragisch. Doch Clemens gehörte noch zu den jungen Offizieren, die u. a. zur legendären Kavallerieschule Hannover abgeordnet wurden, um Ausbildungsabschnitte zu absolvieren (wie Offiziersausbildung im Reiterregiment mit hochqualifizierter Reitausbildung). Seinen Urlaub und seine freie Zeit verbrachte er in Warendorf, er hielt intensiven Kontakt zu seinem geschätzten Vater, vor allem nachdem dieser erkrankt war, und zu seinem auf dem Familienschloss in Ostenfelde lebenden Onkel August.   © Dieser Auszug basiert auf einem Beitrag von Franz-Josef Neuhaus, der im Sammelwerk „Ausgewählte Hengste Deutschlands 2014/15“ erschienen ist.[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row]